Fang ich also wieder zu schreiben an

Liebe Leser*innen dieses Blogs: Es ist lange her, dass ich etwas
geschrieben habe, und dabei hätte es viel zu sagen gegeben. Doch die
Wahrheit ist: Die politische Lage hat mich wieder einmal gelähmt. Zu den
Dingen, die mir besonders wichtig waren, habe ich auf Mastodon ein paar
Sätze gesagt, und zumindest im Nachhinein möchte ich sie hier
veröffentlichen. Und ich hoffe, dass ich künftig wieder ab und an meine
Meinung sagen werde, weil jede Stimme zählt und zählen sollte. Auch
darüber möchte ich schreiben.

Am 8. Oktober 2023 fanden in Hessen und Bayern Landtagswahlen statt. Mit
zwei Statements wandte ich mich dazu am Abend dieses Wahltages und zwei
Tage später an meine Follower auf Mastodon. Ich glaube, man merkt meinen
Worten die Erschütterung über den extrem deutlichen Aufschwung der AfD an:

„Liebe Freund*innen. – Danke! Danke an alle, die heute in Hessen und
Bayern noch demokratisch gewählt haben. Wir, die wir die Katastrophe
gesehen haben, haben unser Möglichstes getan, am Schreibtisch, auf der
Straße und am Wahlkampfstand. Traurige Wahrheit ist: Eine Demokratie
funktioniert nur mit einer Mehrheit der Demokraten. Die CDU unter Merz
ist offen rechtspopulistisch. In Hessen, meinem Bundesland, haben damit
über 50 % gegen die liberale Demokratie gewählt. Noch so gute
Institutionen und ein noch so gutes, ausgewogenes Grundgesetz werden uns
nicht vor den Faschisten retten, wenn wir nicht die Menschen für die
liberale Demokratie gewinnen. Das haben wir in Bayern und Hessen nicht
erreicht. Auch ich, ein SPD-Ortsvereinsvorsitzender und Blogger, der
seit Jahren gegen die AfD anschreibt, habe nichts erreicht. Auch ich
übernehme die politische Verantwortung. Mit diesen Konsequenzen müssen
wir leben. Natürlich werden wir weiterhin kämpfen für eine Welt der
Mitmenschlichkeit, der Zugewandtheit, des Mitgefühls, der Gleichheit und
der Demokratie. Es wird nicht leichter werden, und wir sehen, dass viele
nichts sehen wollen. Meine Solidarität gilt den Verspotteten und
Geächteten, den Grünen, den mutigen Frauen, der LGBTIQ-Bewegung, den
Geflüchteten, den Armen, den Alleinerziehenden, den Menschen ohne
Perspektive oder Bildung. Es ist möglich, dass unser Kampf für den
Menschheitsfortschritt, gegen den Faschismus und für menschliches
Miteinander in Deutschland erfolglos ist. Wie können Kinder und Enkel
von Massenmördern frei sein von der Saat, die eine gesamte Gesellschaft
in sich aufgenommen hatte. Es gibt keine Gnade der späten Geburt und
keine Entschuldung. Wir alle sind auch im heutigen Miteinander zu mehr
Menschlichkeit und mehr Verständnis aufgerufen. Ich bin müde. Nach 2
Jahren werde ich in zwei Wochen den Ortsvereinsvorsitz der SPD hier in
einem der schwierigsten Viertel meiner Heimatstadt abgeben, weil
persönliche Animositäten sogar noch in diesen Zeiten ein gemeinsames
Arbeiten unmöglich machen. Selbst im Kleinen verstehen sie nicht, was
die Stunde geschlagen hat. Natürlich werde ich kämpfen, doch ich bin
unendlich müde und kraftlos. Mein Dank und meine Solidarität an euch
alle, die ihr echte Demokraten seid.“

Zwei Tage später musste ich eine Begebenheit aufschreiben, die ich
gerade erfahren hatte:
„Es ist Nacht, und bevor ich schlafen gehe, hier noch eine kleine, wahre
Geschichte. – Meine Kollegin, die Ortsvorsteherin unseres Viertels, fuhr
mit der Gemeinde ein Wochenende in einen Kurzurlaub. Sie hat in den
letzten 30 Jahren den Ortsbeirat aufgebaut, ist extrem beliebt und seit
vielen Jahren Ortsvorsteherin für die SPD. Alle kennen sie, alle mögen
sie, alle wenden sich mit Problemen an sie: Eine Wohnung für ein
Flüchtlingspaar, Eis auf der Fußgängerbrücke, Müll im ganzen Viertel.
Alle wollen, dass sie Ortsvorsteherin bleibt, sie ist für jeden und jede
da, streitet sich für jedes Einzelschicksal mit Stadtverwaltung und
Landkreis. – Auf der Busfahrt nach Hause kamen am Sonntag die
Wahlergebnisse durch. Der ganze Bus johlte, als bekannt wurde, dass die
AfD so stark geworden war. Dann johlten sie noch mehr, als die SPD so
schwach wurde. Sie johlten der Frau, die 30 Jahre lang alles für sie und
ihre Kinder getan hatte, gehässig ins Gesicht. Das erschüttert mich. In
unserem Viertel leben Menschen aus 90 Nationen, die AfD hat mehr als 35
% bekommen. Die Leute aus den verschiedenen Nationen reden nicht
miteinander. Nur im Bürger*innennetzwerk für soziale Fragen und in der
Gemeinde trifft man sich, es sind immer auch die Vertreter*innen
migrantischer Vereine dabei, aber immer dieselben Leute. Unterhalb
dieser Gesellschaftsspitzen bleibt man unter sich. Ohne dieses
Bürger*innennetzwerk hätte es hier längst geknallt. Alle wissen, was sie
unserer Ortsvorsteherin zu verdanken haben, aber sie johlen sie aus, im
Bus, am Ende einer Urlaubsreise mit Menschen, die sie kennt, weil sie
ein Herz für alle hat. Ich finde das unvorstellbar grausam und traurig.“

Es hat mich wirklich erschüttert, und es fiel mit dem Ende meiner
eigenen, erfolglosen, zweijährigen Tätigkeit als SPD-Ortsvorsitzender
zusammen. Was sollte ich da noch schreiben?

Und dann war da ja noch dieses andere Thema: Der Überfall der Hamas auf
Israel und die Folgen. Am 13. Oktober schrieb ich auf Mastodon:

„Ich habe mich schon seit meiner Schulzeit mit dem Nahost-Konflikt
befasst, und das ist über 30 Jahre her, war ein Steckenpferd meines
Gemeinschaftskundelehrers. Die jetzige Entwicklung ist so grausam und
gleichzeitig so vorhersehbar, dass mir die Worte fehlen. Die Hamas ist
eine Terrororganisation, die ohne jedes Erbarmen friedliche Menschen
entführt und ermordet hat, und zwar im Wissen um die Reaktion Israels.
Das zeugt auch von einem beispiellosen Zynismus gegenüber der eigenen
Bevölkerung. Denn das Ziel der Hamas ist ein Vernichtungskrieg der
arabischen Welt gegen Israel. Wenn Israel mit brutaler Härte reagiert,
wie die Hamas hofft, dann geraten die Nachbarstaaten, insbesondere der
Iran, unter Druck, militärisch gegen Israel vorzugehen. Vielleicht sogar
Ägypten, das mit Israel einen Friedensvertrag hat. Das ist nach meiner
Meinung die Logik der Hamas. Gleichzeitig spielt die Hamas dabei
Ministerpräsident Netanjahu in die Hände, der die innerstaatliche
Opposition ausschaltet, indem er eine Kriegsregierung formiert, die
Proteste gegen seinen Versuch, die Demokratie abzuschaffen, unterdrückt
und dem Krieg unterordnet und damit seine Agenda des autoritären,
rechtsnationalen Staates durchsetzen kann. Die Hamas hilft also auch
ihm. Was für furchtbare, zynische Gedanken, während überall unschuldige
Menschen sterben. Ich solidarisiere mich mit Israel, es wurde feige und
hinterhältig angegriffen. Ich solidarisiere mich mit den Menschen dort,
nicht mit der nationalistischen Regierung und ihren Zielen. Und ich
solidarisiere mich mit den Menschen in Gaza, sie werden angegriffen und
zur Flucht gezwungen werden. Ich solidarisiere mich nicht mit der Hamas,
da gibt es keine Rechtfertigung. Eigentlich kennen alle diesen
furchtbaren Automatismus, der Menschen nur noch wie Bauern, Vieh,
Verschiebemasse und Kanonenfutter behandelt, und niemand schafft es, aus
diesem Teufelskreis auszubrechen. Ministerpräsident Rabbin hat es damals
für eine Weile geschafft. Deshalb war er jeglichen Radikalen ein Dorn im
Auge. Die Welt ist verrückt, und wer weiß, wie die heimliche Atommacht
Iran reagiert. Das macht mir schlaflose Stunden. Trotzdem muss ich
versuchen zu schlafen. Gute Nacht.“ Als ich diese Zeilen schrieb, wusste
ich noch nichts von den grausamen Massakern, die die Hamas bei ihrem
Einfall in Israel angerichtet hatte, insbesondere nicht von den
grausamen Vergewaltigungen und Ermordungen wehrloser Frauen und Mädchen.
Und das im Namen einer Religion, die die Ehre der Frauen für besonders
schützens- und bewahrenswert hält.

Ich konnte und kann nur das Offensichtliche sagen, nur wiederholen, was
andere Menschen schon gesagt haben. Und das hielt ich für sinnlos. Also
habe ich nichts in dieses Blog geschrieben. – Doch andererseits darf
keine Stimme der Vernunft und der Demokratie, keine Stimme der
Mitmenschlichkeit verstummen. Mit meiner Liebsten habe ich darüber
debattiert, wie meine Beiträge und Kommentare aussehen sollten. „Es
nützt nichts, wenn du den Leuten immer noch mehr schwarzen Dreck auf die
Teller kippst“, sagte sie. Was aber, wenn ich keine positive
Aufbruchsstimmung fühle? Was, wenn die Angst stärker ist als der
Optimismus? Soll ich dann von Angst sprechen und mich verletzlich
zeigen? Soll ich von Kampf und Durchhaltewillen schreiben? Ich möchte
einordnen und erklären, was geschieht, möchte ruhig und sachlich
sprechen, nicht alarmistisch, nicht verharmlosend. Eine echte
Gratwanderung. Wer hört heute noch zu? Wer weiß nicht im Vorhinein schon
alles besser? Wer lässt wen noch ausreden? Vor Jahren hat Sascha Lobo
schon geschrieben, dass wir auf einer kleiner werdenden Insel
demokratischer Gesinnung leben, und dass es unser Ziel sein muss, die
Menschen zurückzuholen, die am Rande dieser Insel Gefahr laufen, in den
Strudel des Autoritären zu geraten. Der Bauernprotest, auf den ich in
einem meiner nächsten Postings eingehen möchte, zeigt deutlich, wie
plump und falsch die Regierung versucht, die Sorgen der Bürger*innen
ernstzunehmen. Ihr Versuch besteht im Nachgeben, und damit sendet sie
ein Signal, noch höhere, noch unverschämtere und noch unsolidarischere
Forderungen zu stellen. Wer am lautesten schreit, bekommt recht. Die
Pflegekräfte, die wochenlang protestierten, wurden nicht gehört, sogar
ignoriert. „Wenn der Bauer stirbt, stirbt das Land“, so lautet einer der
Slogans des Protestes. Und was ist, wenn niemand mehr Pflegen will? Was
also soll man noch schreiben, wenn die Ellenbogen gehört werden und
Erfolg haben, die sanften Töne aber bestenfalls ignoriert und
schlimmstenfalls verspottet werden?

Deshalb habe ich nicht geschrieben und keinen Kommentar für den Ohrfunk
verpasst. – Doch das ist auf die Dauer keine Lösung. Lethargie ist nicht
hilfreich, sie spielt nur denen in die Hände, die uns ohnehin
einschüchtern wollen. Also schreibe ich halt wieder, wenn ich auch nicht
weiß, wie oft.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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