Seit Jahren fragen wir uns immer wieder, wie der derzeitige Rechtsruck entstanden ist, und warum er so unaufhaltsam scheint. Dazu sind inzwischen viele kluge Worte gesagt worden, aber ich finde, dass ein Artikel aus der Wochenzeitung „Die Zeit“ von Anfang Februar 2025 das alles recht gut zusammenfasst, wenn es auch nicht für eine vollständige Erklärung reicht. Der Artikel erschien unter dem Titel: „Warum die Welt nach rechts rückt“ und stammt von Johannes Böhme. Ich habe mal meine Gedanken dazu aufgeschrieben:
In vielen Ländern der Welt erleben wir einen beunruhigenden Rechtsruck. Rechtspopulisten gewinnen Wahlen, bestimmen den politischen Diskurs und stellen bestehende Institutionen infrage. Doch dieser Prozess geschieht nicht aus dem Nichts. Er folgt Mustern, die sich durch die Geschichte ziehen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass soziale Unzufriedenheit immer wieder zu Erschütterungen führt – mit teils drastischen Folgen.
Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Swing-Revolte von 1830. In England protestierten Landarbeiter gegen die Einführung von Dreschmaschinen, die ihre Arbeit überflüssig machten. Sie zerstörten Maschinen, legten Feuer und bedrohten die Eliten. Ihr Aufstand wurde brutal niedergeschlagen, doch ihr Frust verschwand nicht. Heute sehen wir eine ähnliche Entwicklung – nur mit anderen Mitteln. Die Wut der Abgehängten äußert sich nicht mehr durch Brandstiftung, sondern durch Wahlzettel. Menschen, die sich von der gesellschaftlichen Entwicklung ausgeschlossen fühlen, unterstützen Parteien, die versprechen, „den Eliten eins auszuwischen“. Sie wollen nicht nur einen politischen Wechsel, sondern oft auch Zerstörung: die Demontage von Institutionen, die ihnen als Symbole einer abgehobenen und selbstgerechten Politik erscheinen.
Bis in die 1980er-Jahre hinein waren rechtspopulistische Parteien in Europa und Nordamerika bedeutungslos. Doch seitdem haben sie stark an Einfluss gewonnen. In Ungarn holte Viktor Orbáns Fidesz-Partei zuletzt über 50 Prozent der Stimmen, in Italien gewann die radikale Rechte über 40 Prozent, in Frankreich liegt der Rassemblement National bei fast 40 Prozent, und in vielen anderen Ländern sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten. Was ist passiert? Warum ist das Tabu gegenüber rechten Parteien in so vielen Ländern gleichzeitig gefallen?
Ein zentraler Faktor ist der wachsende Bildungsgraben. Während früher Akademiker eher konservativ wählten, tendieren sie heute zu progressiven Parteien. Gleichzeitig rutschen die Nicht-Studierten, die lange die Basis der sozialdemokratischen Parteien bildeten, immer weiter nach rechts. Das hat mit einer gesellschaftlichen Entwicklung zu tun, die in den 1960er-Jahren begann: Die Zahl der Studierenden stieg enorm an, Universitäten wurden ausgebaut, und Bildung wurde zur wichtigsten Währung für sozialen Aufstieg. Wer studierte, hatte gute Chancen auf ein sicheres Leben mit hohen Einkommen. Wer nicht studierte, rutschte oft in schlecht bezahlte Jobs ab – oder sah sich mit der Unsicherheit eines sich verändernden Arbeitsmarktes konfrontiert.
Diese „Polarisierung des Arbeitsmarktes“ bedeutete, dass gut bezahlte Jobs für Akademiker entstanden, während viele Nicht-Studierte in den Dienstleistungssektor abrutschten. Jobs mit mittleren Einkommen, die früher für Sicherheit sorgten, verschwanden nach und nach. Während viele Akademiker von der Globalisierung, der Digitalisierung und dem technologischen Fortschritt profitierten, fühlte sich der Rest der Gesellschaft zunehmend abgehängt. Und genau hier liegt der Kern des Rechtsrucks: Es sind nicht unbedingt die Ärmsten, die rechte Parteien wählen, sondern diejenigen, die Angst vor sozialem Abstieg haben – vor allem die untere Mittelschicht.
Soziale Medien haben diesen Prozess zusätzlich beschleunigt. In Studien wurde gezeigt, dass der Ausbau schneller Internetverbindungen mit einem deutlichen Anstieg der Stimmen für rechtspopulistische Parteien einherging. Das hat zwei Gründe: Erstens vergrößern soziale Medien die Vergleichsgruppe, mit der Menschen ihr eigenes Leben messen. Plötzlich sieht jeder, wie gut es anderen geht – und wie weit man selbst davon entfernt ist. Zweitens verbreiten rechte Parteien ihre Botschaften besonders effektiv über soziale Netzwerke, oft ungefiltert und direkt. Angst, Wut und Misstrauen sind Emotionen, die in diesen Medien überproportional verstärkt werden.
Migration ist ein weiteres zentrales Thema, das von rechtspopulistischen Parteien genutzt wird. Doch dabei zeigt sich ein bemerkenswertes Muster: Wer direkten Kontakt mit Migranten hat, ist meist weniger anfällig für rechte Propaganda als diejenigen, die Migration nur aus der Ferne wahrnehmen – durch Nachrichten und Social-Media-Bilder. In Gegenden, in denen besonders viele Geflüchtete untergebracht wurden, war der Rechtsruck oft schwächer als in Regionen, die kaum direkten Kontakt mit ihnen hatten. Das Problem ist also nicht die Migration an sich, sondern die Art und Weise, wie sie medial inszeniert wird.
Ein besonders beunruhigender Aspekt des Rechtspopulismus ist seine destruktive Natur. Viele seiner Anhänger wollen nicht einfach nur andere Parteien ablösen, sondern sie wollen das politische System selbst beschädigen. Sie sind bereit, aus der EU auszutreten, den Sozialstaat zu zerstören oder wirtschaftlich schädliche Maßnahmen zu ergreifen, solange sie glauben, dass es „den Eliten“ mehr schadet als ihnen selbst. Studien zeigen, dass Menschen oft bereit sind, Verluste in Kauf zu nehmen, wenn sie das Gefühl haben, dass andere noch mehr verlieren. Dieses Muster zeigt sich immer wieder in rechten Bewegungen.
Doch was kann man dagegen tun? Die Geschichte gibt uns eine Antwort. Nach der Swing-Revolte in England wurde das Wahlrecht ausgeweitet, und die politische Teilhabe wurde vergrößert. Statt die Wütenden zu bekämpfen, versuchte man, ihre Wut zu kanalisieren und ihnen eine Stimme zu geben. Auch heute könnte der Rechtsruck gestoppt werden, wenn demokratische Parteien große, strukturelle Reformen anpacken. Die Politik muss sich um jene kümmern, die sich abgehängt fühlen, und ihnen echte Perspektiven bieten – sei es durch bessere Bildungschancen, einen gerechteren Arbeitsmarkt oder eine kluge Sozialpolitik.
Allerdings gibt es drei Aspekte, die in der Argumentation des Artikels etwas zu kurz kommen. Erstens wird die Rolle kultureller Faktoren unterschätzt. Der Rechtsruck ist nicht nur eine Folge wirtschaftlicher Unsicherheit, sondern auch eine Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen. Viele Menschen fühlen sich nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell entfremdet – von einer Politik, die sich zunehmend mit Klimaschutz, Minderheitenrechten und globalen Fragen befasst, während ihre eigenen Alltagsprobleme kaum Beachtung finden. Dies ist etwas, was sich in Deutschland Sahra Wagenknecht mit ihrer Bewegung zunutze macht, wenn sie immer wieder von der Frau an der Supermarktkasse spricht, die kein Verständnis für Gendersprache und Unisex-Toiletten habe.
Zweitens wird der Einfluss sozialer Medien zwar gut beschrieben, aber es bleibt die Frage, warum der Rechtsruck auch in Ländern mit schwacher digitaler Infrastruktur stattfindet. Orbáns Ungarn oder Putins Russland zeigen, dass autoritäre und rechtspopulistische Bewegungen auch ohne starkes Internet wachsen können. Das zeigt, dass der Medienwandel zwar ein Verstärker ist, aber nicht die einzige Ursache.
Und drittens: Geld beeinflusst auch das Wählerverhalten, weil Parteien mit mehr Geld einen ganz anderen Wahlkampf führen können. Im Jahr 2025 wurden bis jetzt rund 15 Millionen Euro gespendet. Davon gingen fast 5 Millionen an die AfD, 4 Millionen an die CDU/CSU und 2,5 Millionen an die FDP. Das Kapital unterstützt also ganz offen die Parteien, die sich eine andere Regierungsform wünschen, die die pluralistische, progressive Demokratie ablehnen. Mit ihren kaum versiegenden Geldquellen können diese Parteien dann nicht nur einen besseren Wahlkampf machen, sondern auch ihnen genehme Studien in Auftrag geben und den Lobbyverbänden ihrer Spender Zugang zu Parlamenten und Ministerien verschaffen. Wo das Geld ist, ist in aller Regel auch die Macht.
Trotz dieser offenen Fragen bleibt das Fazit klar: Der Rechtsruck ist das Ergebnis eines tiefen gesellschaftlichen Grabens zwischen den Gewinnern und Verlierern des modernen Kapitalismus. Nur wenn die Politik diesen Graben ernst nimmt und sich nicht nur mit moralischen Appellen gegen die Rechte stellt, sondern echte wirtschaftliche und soziale Lösungen anbietet, kann dieser Trend gestoppt werden. Die Geschichte zeigt, dass es möglich ist – wenn man bereit ist, entschlossen zu handeln.
Keine Frage, dass ein solcher Schritt in Zeiten des globalisierten Marktes schwieriger ist als früher durch nationale Alleingänge. Eine neue, echt progressive Sozialpolitik, die auch die Folgen des Klimawandels berücksichtigt, müsste gleichzeitig in vielen Ländern der Welt entstehen und durchgeführt werden. Damit ist leider derzeit nicht zu rechnen. Bleibt zu hoffen, dass ein Umdenken stattfindet, bevor uns die Wut der Rechten und die Feigheit der Demokraten in die nächste Katastrophe treiben.
Lesetipp
Warum die Welt nach rechts rückt, kostenpflichtiger Inhalt der Wochenzeitung „Die Zeit“.