Prozessauftakt, – Und sonst?

„Wie kann heute ein normaler Tag sein? Warum schämt sich ganz Deutschland angesichts des NSU-Prozessbeginns und der unbeschreiblichen Pannen- und Schlampereiserie, der Hilfe des Verfassungsschutzes für die Verbrecher unter dem Mäntelchen der Bespitzelung und der absolut mangelhaften Aufklärung nicht in Grund und Boden? Mein Mitgefühl, meine Solidarität, mein Bedauern, meine Scham: Sie gelten den Opfern und den oft lange zu unrecht verfolgten und verdächtigten Hinterbliebenen. Meine Verachtung gilt den Verbrechern und einer Politik und Regierung, die Sonntagsreden hält und nichts unternimmt und sich damit zu Mittätern und Mitverbrechern macht.“

Dies habe ich 12 Minuten vor dem offiziellen Prozessbeginn gegen Beate Zschäpe und 4 weitere Angeklagte auf Facebook veröffentlicht. Ich habe es getan, weil alle in meiner Chronik und Timeline in den sozialen Netzwerken über das Wetter, den internationalen Tag der Diät und des Lachens, über Hunde, natürlich über Katzen und über weitere Belanglosigkeiten schrieben und wohl weiter schreiben werden. Ich habe es getan, weil ich meine Stimme erheben wollte. Ich habe es geschrieben, weil in den letzten Wochen nur noch vom unwürdigen und beschämenden Geschacher und Gerangel um die Presseplätze die Rede war, aber nicht von den Greueltaten des nationalsozialistischen Untergrunds, nicht von den Opfern, den Hinterbliebenen, Angehörigen und Freunden, die verdächtigt und ausgegrenzt wurden. Ich habe es geschrieben, weil die Gleichgültigkeit gegenüber rechtsradikalen Gewalttaten groß ist. Und wo sie nicht groß ist, da werden diese Taten mit Wut und eigener Gewalt beantwortet. Aber dass die rechtsradikale Ideologie, die Ideologie der Vernichtung, der eigenen Überhöhung, der grenzenlosen Überheblichkeit, des National-, Standes- und Rassendünkels immer noch in der Mitte unserer inzwischen demokratisch gewandeten Gesellschaft lebt, das will man nicht hören, das wird abgetan, das wird verharmlost und nicht beachtet. Solange man brav sein Kreuzchen bei den demokratischen Parteien macht, spielt es scheinbar keine Rolle. Dass viele dieser Parteien von einer tiefen satten Strömung nationalsozialistischen Gedankengutes durchsetzt sind, ist zu erschreckend, als dass man es offen zugeben könnte. Sie bedienen sich eines Verfassungsschutzes, der die demokratische, tolerante und bürgernahe Verfassung mit ihren Menschenrechten schützen soll, und dieses Instrument demokratischer Selbstverteidigung besteht zum Großteil aus bezahlten, gedungenen Söldnern aus dem rechtsradikalen Milieu, denen man einen Judaslohn für Informationen zahlt, aber die Durchführung eigener Verbrechen großzügig erlaubt. Nur deshalb ist ein Verbot der NPD beispielsweise so schwer, denn die Belastungszeugen sind die Rechten selbst, nur nennen sie sich dann V-Männer des Verfassungsschutzes. Wir leben in einem Land, in dem solche Ungeheuerlichkeiten als Notwendig betrachtet werden. Wir leben in einem Land, wo eine demokratische Linke, von der nun ganz gewiss keine Gefahr mehr ausgeht, von den Verfassungsschützern mit Argusaugen beobachtet wird, in dem Menschen, die die Identität rechtsradikaler Hetzer aufdecken und öffentlich machen, vom Verfassungsschutz bespitzelt und verfolgt werden, in dem es aber gleichzeitig möglich ist, dass die rechte Szene sich ausbreitet, dass Mitbürger ermordet werden, dass ihre Angehörigen, weil sie ausländischer Herkunft sind, verdächtigt werden, einem Drogenring anzugehören und ähnliche Unverschämtheiten.

Wer in einem solchen Sumpf menschenverachtender Hetze lebt und arbeitet, der möchte sicher nicht, dass all zu viel davon an die Öffentlichkeit des Auslandes dringt. Man will ja seinen guten Ruf nicht verlieren. Schlimm genug, dass die Pannenserie, die Nachlässigkeit der Behörden bei der Untersuchung der grauenhaften Morde der Rechten und deren Nähe zu Mitarbeitern des Verfassungsschutzes allgemein bekannt geworden sind. Jetzt will man lieber nicht, dass all zu viel ausländische Presse beim Gerichtsverfahren anwesend ist. Denn die einzige Überlebende des mörderischen Trios, Beate Zschäpe, kann man vielleicht nicht so hart verurteilen, wie es die Hinterbliebenen der Ermordeten und deren Nationen als Genugtuung fordern. Und wer weiß, was noch alles an Peinlichkeiten aufgedeckt werden wird? Anders kann ich mir den Presseskandal kaum erklären, es sei denn damit, dass man unbedingt versuchen wollte, von den Tätern und den Opfern abzulenken.

Nun beginnt also der Prozess. Vertrauen darauf, dass es ein guter und fairer Prozess wird, hat ohnehin niemand mehr. Das ganze Land redet darüber, dass die Publikumstribüne im Gerichtssaal voller Journalisten sitzt. Und ansonsten geht es ums Wetter, um Hunde und Katzen, den internationalen Tag gegen Diät und natürlich, nicht zu vergessen, den Welttag des Lachens. Desselben lachens vermutlich, das mir gerade im Halse stecken bleibt. Und nachdem ich 45 Minuten an diesem Text geschrieben habe, ist mein Facebook-Eintrag kaum beachtet worden. Warum auch, es ist ja ein ganz normaler Tag in Deutschland.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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3 Antworten zu Prozessauftakt, – Und sonst?

  1. Jörg sagt:

    Auch der einsamste Rufer findet irgendwann Gehör. Dein Fb-Eintrag hätte ich gern auch gelesen, leider funktionierte der Link in Twitter nicht.

    Ich bin, das überascht Dich sicher nicht, mit Dir völlig einig. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Jede Sensationsberichterstattung über die „Einzeltäter“ ist eine zuviel und gibt „der Szene“ eine Öffentlichkeit, die sie nicht haben sollte.

    Die eigentlich Verantwortlichen hüllen sich in Nebel. Am Ende war alles Speigelfechterei, denn ein (Schau) Prozess kann es nicht richten.

    Bleib dennoch dran, bitte.
    Jörg

  2. Leo sagt:

    Diese unleidige NSU-Sache weiterhin als Pannen- und Schlampereiserie zu bezeichnen, halte ich für eine unzulässige Verharmlosung.
    Ich bin ziemlich sicher, dass hier nicht etwa geschlampt wurde, sondern seitens Verfassungsschützer, Bundes- und Landeskriminalämter und Polizeidirektionen aus den niedrigen bis höchsten Ebenen systematisch Neonazi-Gruppen tatkräftig unterstützt wurden, bzw. die Zusammenhänge deren Taten mit der rechtsextremen Szene bewusst systematisch vertuscht und verharmlost wurden.
    Hier waren (sind) clevere Leute am Werk, die in einem großen Netzwerk zusammenhalten und es bestens verstehen, solches ins Geheime zu tun.
    Pannen und Schlamperei können passieren, aber nicht über einem Jahrzehnt in einem derartigen Umfang vertuscht werden.
    Die Schande ist nicht so sehr, dass es vereinzelte vernetzte Neonazis gibt. Die gibt es in allen westlichen Ländern. Die Schande ist, dass es in diversen Sicherheitsbehörden dieses Landes ein großes Netzwerk von Neonazis und Unterstützer von Neonazis gibt.
    Und die größte Schande ist es, dass weder die gegenwärtigen Landesregierungen, noch die Bundesregierung den Mumm hat, das Ganze Desaster öffentlich aufzudecken, Ross und Reiter zu nennen und die Verantwortlichen in jenen Behörden konsequent zur Rechenschaft zu ziehen.
    Wenn man allein schon danach schaut, wie zaghaft und vorsichtig im Untersuchungsausschuss mit all den betroffenen Beamten umgegangen wird, ja sie geradezu mit Samthandschuhen angefasst werden und bei der mittlerweile offensichtliche Komplizenschaft der Sicherheitsdiensten immer noch von „Pannen“ geredet wird, kann es einem wirklich schlecht werden. Und wenn die kompletten Medien ebenfalls immer nur von „Pannen“ reden, machen sie sich dabei selbst zum Komplizen.

  3. Thorn sagt:

    Hat die Brigitte eigentlich noch ihren Presseplatz, ist Brigitte eher rechts oder eher links einzuordnen und welche Mode empfiehlt Brigitte fuer den Sommer?
    Wenn Du meinst, dass Du Dich unbedingt schaemen musst, bitteschoen – jeder wie er mag.
    Ich schaeme mich solange nicht und unterhalte mich symbolisch ueber Hunde, Katzen und Maeuse bis die Sache ordentlich und vollstaendig aufgeklaert ist und ich befuerchte, dass das laenger als der Prozess dauern wird. Danach muss man sehen in welcher Form ich mich schaeme und worueber und ob ich es vielleicht auch ganz stecken lassen kann.
    Sei’s drum. In jedem Fall ist es sicher ein geeignetes Wahlkampfthema und ein guter Grund mehr fuer zukuenftige Einschraenkungen und Ueberwachungen.

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