Non und Nee, tut das weh?

Die Situation in der EU nach Ablehnung der Verfassung in Frankreich und den Niederlanden

Fast könnte man glauben, zu viel Demokratie schadet den Europäern. Kaum wagen sich mal zwei Länder vor und präsentieren ihren Bürgern einen wichtigen EU-Vertrag zur Abstimmung, schon wird er abgelehnt. Was soll denn nun aus Europa werden?

Die Ohrfeige kann man nur als schallend bezeichnen, und alle Beschwichtigungsversuche der Politiker helfen nichts. Auch die Aussage, die Medien seien Schuld, die hätten die Wähler aufgehetzt, mag faktisch korrekt sein, verfehlt aber in jedem Falle die notwendigen Konsequenzen und zeugt von der Unbeweglichkeit und Arroganz einer politischen Klasse, die sich nur bei einer repräsentativen Demokratie wohl fühlt, muss sie doch dann das Ohr nicht immer am Herzen des Bürgers haben. Echtes Nachdenken, mutiges Eingestehen eigener Fehler und eine völlig neue Europadiskussion wären gefragt, nachdem die Bevölkerungen Frankreichs und der Niederlande den EU-Verfassungsvertrag mit überwältigender Mehrheit abgelehnt haben. Das Argument, dass eine so komplexe Materie den Bürger erschlägt, zählt nicht, denn gerade in Frankreich haben sich die Menschen zu zigtausenden vor der Abstimmung über eilig gekaufte Bücher intensiv informiert über das Thema, nahmen in eindeutiger Weise das Recht auf Informationsfreiheit und Meinungsbildung wahr. Dass man trotzdem viele innenpolitische Argumente hörte bei der Begründung der Ablehnung des Vertrages, sollte niemanden verwundern, der miterlebt, wie Europa immer wieder zum Spielball in nationalen politischen Kämpfen wird. Europa, diese trockene Union des Geldes und der Vorschriften über die Länge und Krumme von Bananen, ist viel zu weit von den Menschen entfernt, und die brüsseler Bürokratie mischt sich ein in Dinge, von denen sie gar nichts versteht, zum Wohle der großen Unternehmer und ihrer Gewinne. Die Menschen in ihrem Alltag hingegen merken nur, dass man drauf zahlt und nichts persönlich spürbares davon erhält. Europa hat seine Ideen und Ideale verloren, und die Politik, die zum Handlanger der Wirtschaftsinteressen geworden scheint, tut nichts, um sich diesem Trend in den Weg zu stellen.

Die Humanistische Union in Marburg lobt in einer Pressemeldung die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich als „Sieg der Menschenrechte“, der verhindert habe, dass sich die Neoliberalen Europa praktisch zum Nulltarif aneignen. Der Vorsitzende der Hu in Marburg, Franz-Josef Hanke, fordert die EU auf, eine neue Verfassung zu entwerfen, die sich auf die unbedingt notwendigen Regularien beschränkt. Damit tritt er ein für eine starke Begrenzung der Macht der Europäischen Union. Vor 30 oder 40 Jahren hätte Hanke bestimmt noch ganz anders gesprochen, denn die europäische Erklärung der Menschenrechte ließ auf ein anderes, ein soziales, menschliches und friedliebendes Europa hoffen, ein Europa auf dem Weg zur friedlichen Einheit aller Menschen. Heute aber lehnen die Betroffenen, die Menschen, für die Europa eigentlich gemacht sein soll, dieses Gebilde ab.

Natürlich wird dabei auch viel übertrieben. Europa ist bei weitem nicht auf dem Wege, ein Superstaat zu werden, die „Vereinigten Staaten von Europa“ sind noch lange nicht in Sicht, und den Verlust der eigenen Identität muss man nun weiß Gott nicht befürchten, wenn man die eigene Identität selbst pflegt und nicht darauf wartet, dass es der Staat für einen tut. Trotzdem gilt die Union vielen als Moloch, als bürokratisches und undemokratisches Gebilde. Und das Demokratiedefizit wäre mit der Verfassung keineswegs aufgehoben oder auch nur vermindert worden. Das Europaparlament hat bei den wirklich wichtigen Entscheidungen innerhalb der Union nichts zu melden, und das wird wohl auch so bleiben. Hätte Europa eine echte demokratische Legitimation, sähe die Sache vielleicht anders aus, und eine konstruktive Verfassung wäre auch dann angenommen worden, wenn sie sich nicht auf die unbedingt notwendigen Regularien beschränkt hätte.

Nun ist dieser Vertrag nicht das erste Dokument, das in verschiedenen Staaten abgelehnt wurde. Auch der Vertrag von Maastricht, der uns letztlich den Euro bescherte, musste sich in mindestens einem Land zwei Abstimmungen stellen. Ich könnte mir vorstellen, dass die politisch Verantwortlichen in Frankreich und den Niederlanden darüber nachgedacht haben, auch diesen Vertrag noch einmal zur Abstimmung zu stellen, irgendwann nächstes Jahr vielleicht, wenn Gras über die Sache gewachsen ist. Aber die dauernde Wiederholung fördert die Akzeptanz Europas auch nicht.

Wie man es dreht und wendet, 55 % Ablehnung in Frankreich, 60 % Ablehnung in den Niederlanden und die Ablehnung in fast allen westeuropäischen Ländern bei Meinungsumfragen sind nicht einfach zu übersehen, und obwohl das Referendum in den Niederlanden eigentlich für das Parlament nicht verbindlich war, werden alle Parteien sich an das Ergebnis halten. Ist damit die EU-Verfassung endgültig erledigt?

Vermutlich wird es unmöglich sein, diesen Text, der an sich ja schon einen Kompromiss der Kompromisse darstellt, noch durchzudrücken. Nachverhandlungen zur Erreichung eines weiteren, noch verwascheneren Kompromisses wären Makulatur. Denn dieser Verfassungsvertrag ist nur selten konkret, enthält viele verwaschene Absichtserklärungen, viele Bestimmungen, die bislang in anderen Verträgen geregelt wurden und im Verfassungsvertrag zusammengeführt wurden, und einige Änderungen, die aber kaum etwas Substanzielles beinhalten. Dass der Präsident des europäischen Rates künftig zweieinhalb Jahre amtieren soll und kein Regierungschef eines Einzelstaates sein soll, ändert nicht viel an seiner Funktion und gibt der Union keineswegs mehr Macht. Es bleibt dabei, dass Wirtschafts- und Handelsbestimmungen praktisch ohne das Parlament beschlossen werden können, es bleibt dabei, dass die Regierungen der Einzelstaaten in der Hauptsache die Politik Europas machen. Dieselben Leute, die heute die Union ablehnen, oder ihr zumindest sehr kritisch gegenüber stehen, die hätten vor 30 oder 40 Jahren zu ihren größten Befürwortern gehört. Die mangelnde Demokratisierung, die fehlende Bürgernähe, die nicht vorhandene Utopie Europa, all dies sind Gründe dafür, dass die Union in ihren Ländern oftmals als Last und weltfremdes Bürokratiemonstrum gesehen wird. Da auch die Debatten um den Euro immer wieder in nationalen Kleinstreitereien endeten, und weil niemand es verstanden hat, die Vorteile der gemeinsamen Währung für den einfachen Bürger zu erklären, gibt es jetzt schon wieder Stimmen, die die abschaffung des Euro verlangen. Und wenn der europafeindliche Trend sich fortsetzt, könnte diese Forderung irgendwann einmal ernstzunehmen sein.

Eines nämlich scheint mir sicher: Viele Regierungen sind zufrieden damit, dass es keinen Verfassungsvertrag gibt. Zwar betonen alle, wie gern sie ihn hätten, aber im Grunde war die vorliegende Fassung einfach nichts besonderes, nichts, was man den Bürgern als Fortschritt verkaufen konnte, wie man an den Abstimmungen gesehen hat. Und solange die Mitglieder der EU kein gemeinsames Ziel haben, sondern jeder nur den Vorteil in einer großen Freihandelszone sucht, solange wird sich an der Ablehnung Europas durch seine Bürger nichts ändern, denn auch sie bleiben dann im nationalen Denken verhaftet. Ein Europa ohne verbindendes Element, ohne Demokratie und Ideale wird immer weiter in der Gunst der Bürger sinken. Da wäre es schon ehrlicher, keine Referenden durchzuführen, sondern gleich die REgierungen über die Verträge abstimmen zu lassen. Denn die wollen sie, die haben sie eingebracht, und die haben aus Wirtschaftsgründen eigentlich gar nicht vor, ihre Bürger zu fragen. In einer Zeit, wo alle nur noch vom „Standort Deutschland“ sprechen, kann sich vermutlich kaum noch ein Politiker vorstellen, dass es auch einmal andere, nicht wirtschaftlich geprägte Ideale gegeben hat. Ideale, die gerade nach dem zweiten Weltkrieg sehr populär waren. Brüssel hat diese Ideale mehr verdorben als gepflegt, und Straßburg ist nicht mehr und nicht weniger, als eine Alibiversammlung. Dass die Bürger dieses Kontinents in ihrer Mehrheit dieses Konstrukt so nicht wollen, das haben sie gezeigt in ihrer Ablehnung des Verfassungsvertrages. Und wenn Europa nicht neu entdeckt wird, wird sich daran auch nichts ändern.

© 2005, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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