Heute war Peer Steinbrück in Marburg. Darum haben meine Freunde und ich es uns nicht nehmen lassen, seine Rede anzuhören. Es war ein interessanter Besuch, aber ich weiß jetzt, warum ich die SPD nicht wählen kann. Bei Herrn Steinbrück komme ich dreimal nicht vor.
Das Cineplexx-Kino in Marburg war übervoll. Mit so viel Ansturm hatten wir gar nicht gerechnet. Sicher: Peer Steinbrück kam, der Spitzenkandidat der SPD für die Bundestagswahl am Sonntag, aber mehr als einige hundert Menschen sollten doch bei den lauen Umfragewerten der SPD nicht zu erwarten sein, dachten wir. Weit gefehlt: Als wir zu fünft, der Blindenhund mit gerechnet, am Veranstaltungsort ankamen, war bereits alles voll. Wir bekamen keinen Platz mehr im großen Saal, und auch nicht im Ausweichsaal, wohin die Veranstaltung in Audioqualität übertragen wwurde. Mit einigen hundert Interessierten mussten wir der Wahlveranstaltung stehend auf dem Kinoflur lauschen, doch wir nahmen dies gern in kauf, um uns ein Bild von dem Kandidaten machen zu können.
Peer Steinbrück beantwortete durchaus unterhaltsam Fragen, die ihm – ob angeblich oder tatsächlich weiß ich nicht – von interessierten Bürgerinnen und Bürgern schriftlich gestellt worden waren. Natürlich waren es Fragen, die in sein Konzept passten, Fragen, wie eine Freundin später sagte, die er genau so, zum Teil mit gleichen Formulierungen, auch im Fernsehen beantwortet hatte. Es ging um ein paar Themen, die sich hauptsächlich um Jobs drehten. Die PKW-Maut wurde erwähnt, die gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartner beim Adoptionsrecht auch, aber ansonsten ging es im weitesten Sinne um Arbeit. Billiglohnsektor, Forderung nach Mindestlohn, Armut im Alter, Jugendarbeitslosigkeit, pflegende Angehörige und ihre Löhne, geschlechtliche Gleichstellung beim Lohn. All das waren Fragen, zu denen Peer Steinbrück Stellung nahm. Dabei konnte er teilweise ganz gut Probleme herausstellen: Weil die Menschen später ins Berufsleben einstiegen und länger lebten, sei es zur Schieflage bei den Rentenkassen gekommen, sagte er. Man müsse zurück zur
sozialversicherungspflichtigen, durch Mindestlohn geschützten, tariflich bezahlten Arbeit, damit die Altersarmut nicht so heftig ausfalle.
Wenn ich dies höre, stellt sich mir unwillkürlich die Frage: Wer hat den Billiglohn- und Leiharbeitssektor so groß werden lassen? Wer hat den Niedriglohnsektor überhaupt erst in dieser Weise geschaffen? War es nicht die rot-grüne Regierung in ihrem Bestreben, Arbeitslosigkeit schnell abzubauen?
Bundeskanzlerin Angela Merkel habe keine Vision für dieses Land, sie bewege sich im Kreisverkehr und tue immer nur das allernötigste, sagte der SPD-Kandidat. Da ist was dran. Und er zählte auf, dass die Kanzler vor Merkel immer eine Vision, eine Richtung gehabt hätten. Auch das kann man begrenzt so unterschreiben, ganz egal, was man von diesen Visionen hält. Mit aller Kraft versuchte er, die Menschen von der SPD zu Überzeugen mit dem Versprechen, dass er als Bundeskanzler viele Dinge anpacken werde, die er heute angerissen hat.
Aber ach: Bei mir hatte Peer Steinbrück überhaupt keinen Erfolg. Drei mal hat er mich verleugnet während seines Besuches.
1.: Zwar sprach Steinbrück über Jugendliche und ihre Probleme, und auch über Menschen im Seniorenalter, aber über die Menschen in der harten Zeit „zwischen Twentours und Seniorenpass (Stefan Stoppok)“ sagte er nichts.
2.: Zwar betonte Peer Steinbrück, dass niemand wegen seines Geschlechts, seiner sexuellen Ausrichtung, seiner Heimat und seines Alters benachteiligt werden sollte, natürlich vor allem wirtschaftlich und im Bezug auf Arbeitsvermittlung, aber über Menschen mit Behinderungen sagte er kein einziges Wort.
3.: Arbeitslose Menschen kamen bei Peer Steinbrück während seiner ganzen Rede nicht vor. Er sprach von den Wenig-verdienern, von den Leiharbeitern, von den Aufstockern. Aber nicht von den Arbeitslosen, und wenn, dann als wirtschaftlich aktivierbare Größen, nicht als Menschen mit eigenen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Lebensentwürfen.
Zu all diesen Gruppen gehöre ich.
Ich kann daraus nur den Schluss ziehen, dass die SPD im Wahlkampf um unsere Stimme nicht kämpft. Nicht um die Stimme behinderter Menschen, nicht um die Menschen mittleren Alters und nicht um die Menschen ohne Arbeit und mit den daraus resultierenden Problemen. Menschen, die zumindest teilweise aufgrund der Maßnahmen der SPD in diese Lage am Rande der Gesellschaft geraten sind. Uns will sie gar nicht in ihren Reihen.
Immerhin hat der SPD-Spitzenkandidat so eloquent geredet, dass es des Hinweises einer Freundin bedurfte, was er alles nicht gesagt hatte, dass ich zur Gänze auf die Lücken in seinen Ausführungen aufmerksam wurde.
Wenn ich es nicht schon vorher gewusst hätte, so wüsste ich es jetzt: Meine Stimme bekommt Peer Steinbrück nicht, trotz einiger richtiger Dinge, die er sagte.