Jeder möchte einmal eine viertel Stunde des Ruhms genießen, sagen Sie. Jeder möchte einmal ganz groß in den Abendnachrichten erscheinen, auch wenn der Ruhm schnell verfliegt, sagen sie. Schuld seien die Medien, die aus jeder Tat eines verwirrten Einzeltäters gleich einen terroristischen Anschlag machten, sagen sie. – Und ich wünschte, sie hätten diesmal recht.
Am 29. Januar 2015 um kurz vor acht Uhr abends näherte sich ein unauffälliger junger Mann dem Eingang zu den Studios des niederländischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Vor dem Pförtner, der auch als Sicherheitsmann fungierte, blieb er stehen, zog eine kleine Pistole und überreichte dem geschockten Angestellten einen Brief. darin verlangte er während der Hauptnachrichten um 20 Uhr ein paar Minuten Sendezeit für sich, andernfalls würden überall im Land Bomben gezündet werden, er sei Mitglied einer Hackergruppe, die ihre Forderungen stellen wolle. Der Pförtner reagierte geistesgegenwärtig und führte den Mann, der sehr beherrscht, freundlich und ruhig wirkte, in ein leeres Fernsehstudio, und nicht zu den Kollegen der Abendnachrichten, die in diesem Augenblick eigentlich hätten beginnen sollen. Doch aufgrund des „Anschlags“ stoppte die Sendeleitung die Ausstrahlung, und die Zuschauer sahen zum ersten mal um 20 Uhr die Bitte, an den Fernsehgeräten zu bleiben und abzuwarten. Der „Attentäter“ unterhielt sich freundlich mit dem Sicherheitsmann, versprach ihm, dass er bald nach hause gehen könne, er wolle nur senden und sich dann der Polizei stellen. Eine Kamera nahm das Gespräch und die dazugehörigen Bilder auf. Er wolle die Wahrheit sagen, er sei von Geheimdiensten eingekauft worden und habe für sie gearbeitet, und darüber wolle er sprechen, erklärte der Eindringling dem Sicherheitsmann. Gerade als er sich darüber zu wundern begann, dass immer noch keine Verbindung zum Fernsehstudio und zur Redaktion bestand, erschien die Polizei mit zwei oder drei Beamten. Nach Aufforderung ließ der Eindringling sofort seine Waffe fallen und wurde festgenommen, ohne Widerstand zu leisten.
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Im Laufe des Abends kam heraus, dass die Waffe eine Spielzeugpistole war. Der Name des Mannes ist Tarik Z., er ist in den Niederlanden geboren, hat aber einen ägyptischen Vater. Seit einem halben Jahr studierte er Molekularbiologie in Delft und Leiden und galt als freundlich, unauffällig und intelligent. Schnell machten aber auch Gerüchte die Runde, Tarik Z. sei ein geistig verwirrter Mann, der das Trauma des Todes seiner Eltern nicht habe verwinden können. Bevor die Nachrichten in den Medien sich jedoch schnell und plötzlich wieder anderen Themen zuwandten, erfuhr die Öffentlichkeit noch, dass die Familie lebte und bei bester Gesundheit war.
Was also ist wirklich geschehen an diesem Donnerstag in Hilversum im Mediapark? Schnell waren sich alle einig, dass es sich um die ruhmsüchtige Tat eines verwirrten jungen Mannes handelte, eines Einsamen und Gestrandeten. Zeitungen hielten sich mit Berichten zurück, die Sensationspresse schrieb das Thema erstaunlich schnell ab. Eigentlich würde ich das begrüßen, wäre es einfach eine verantwortungsvolle Entscheidung der Presse. Endlich haben die Journalisten etwas gelernt, würde ich sagen, sie treiben nicht eine wehrlose Sau durchs Dorf.
Damit könnte die Geschichte zu Ende sein, wäre da nicht dieses bohrende Gefühl, dass ja was dran sein könnte an der Behauptung von Tarik Z., er habe wichtige Dinge über Geheimdienste und ihre Machenschaften zu sagen. Was wollte er, immer vorausgesetzt, er war kein verwirrter und Ruhmsüchtiger Teenager, der Öffentlichkeit mitteilen? Allein, dass ich mir diese Frage stelle, zeigt, wie verunsichert wir heutzutage alle geworden sind, wie sehr wir alle beginnen, über Verschwörungstheorien nachzudenken. Tagelang war ich mir einfach nicht sicher, was ich von dieser ganzen Sache halten sollte. Es fängt schon damit an, dass der Mediapark in Hilversum für die Niederlande eine historische Stätte ist. Hier erschoss ein Umweltaktivist im Mai 2002, nur 8 Monate nach dem 11. September, den Rechtspopulisten Pim Fortuyn und löste das Trauma aus, in dem sich die Niederlande seither befinden, die Zerrissenheit der Nation, die tiefe Spaltung der Gesellschaft. Von hier gingen rechtspopulistische Wellen durch ganz Europa. Seither ist jede Meldung, in der ein Mensch mit Migrationshintergrund und eine Waffe erwähnt wird, die reinste Sensation. Aber hat dies irgendetwas mit dem aktuellen Geschehen zu tun? – Dann ist da die NSA-Affäre: Wir werden alle von Geheimdiensten überwacht, und vielleicht wusste oder weiß der junge Mann tatsächlich etwas, das den Mächtigen gefährlich werden kann? Und sofort schießt mir die nächste Frage durch den Kopf: Hätten sie ihn dann am Leben gelassen? Ich erinnere mich an das Attentat auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris: Die Attentäter waren am Ende tot, nur ein personalausweis stellte ihre Identität einwandfrei fest. Wären sie dazu gekommen, Aussagen vor Gericht zu machen, was hätten sie wohl gesagt? Ist die Tatsache, dass Tarik Z. noch lebt ein Beweis dafür, dass er wirklich nichts weiß und ein einfacher Spinner ist? Viele Menschen, deren Taten man nicht sofort erklären kann, werden heutzutage als „geistig verwirrt“ bezeichnet. Aber Tarik Z. machte einen ruhigen, gefassten Eindruck, er ergab sich sofort der Polizei und versuchte, die aufgeregten Beamten zu beruhigen.
Nach zwei Tagen berichtete niemand mehr über den sogenannten Anschlag auf dem Mediapark in Hilversum, alle atmeten auf, weil es keine terroristische Tat war. Und doch könnte Tarik Z. lebenslang ins Gefängnis kommen, obwohl seine Waffe eine Spielzeugpistole war, und obwohl er tatsächlich keine Gewalt angewendet hat. Ich weiß nicht, ob ich hoffen oder zweifeln soll: Die auffällige Stille der Medien könnte bedeuten, dass der Fall nicht mehr interessant ist, weil es sich tatsächlich nur um eine arme Seele handelte, die für 15 Minuten Ruhm ihr Leben weggeschmissen hat, was heutzutage durchaus möglich scheint, wo Selfies den Weg des Vereinzelten Menschen in die Öffentlichkeit darstellen. Andererseits könnte die Schweigsamkeit der Medien verordnet sein, um die Geheimnisse zu wahren, mit denen wir beherrscht und manipuliert werden. Wir werden es nicht erfahren, niemand wird uns die Objektive Wahrheit mitteilen. Wir werden in unseren Köpfen eine Entscheidung treffen müssen, was unsere Wahrheit ist, nur so können wir Ruhe finden. Wachsamkeit oder Paranoia, das ist hier die Frage.
Jeder möchte einmal eine viertel Stunde Ruhm genießen, sagen sie. Deshalb hat der ruhige, einsame junge Mann, der in allem nur durchschnittlich war, einmal etwas ganz Besonderes tun wollen. Obwohl das eine Menge schrecklicher Dinge über den Zustand unserer Gesellschaft aussagt, hoffe ich doch, sie haben einfach recht. Dann wäre da jemand, den man nur bedauern könnte, ohne schon wieder die Schreckgespenster des Überwachungsstaates zu beschwören, gegen die man sich ohnehin nicht wehren kann. – Oder ist das nur eine Flucht in meinen ganz persönlichen Biedermeier? Noch weiß ich es nicht.
Ich weiss auch nicht recht was ich von diesem Fall halten soll, aber eines ist doch mal sehr merkwuerdig (ausser dass in gewissen Umfeldern sich die geistig verwirrten in Massen zu tummeln scheinen):
Mal vorausgesetzt, dass das kein Fake ist, dann wird sich der junge Mann sicher schon vorher denken gekonnt haben, dass er im Leben nicht vor die Kamera kommt, dass man ihn hinhalten oder austricksen wird.
Mit etwas Glueck kann sowas vielleicht gelingen, aber die Chancen stehen doch ausgesprochen schlecht.
Dagegen stehen die Chancen schon wesentlich besser, dass er die Aktion nicht ueberlebt.
So, und nun hat er also eine mega-wichtige Mitteilung an das Volk zu machen fuer die er sogar bereit ist sein ganzes Leben auf’s Spiel zu setzen oder zumindest doch seine Karriere auf den Muell zu schmeissen.
Und dieser Student der Naturwissenschaft kommt nun also gar nicht auf die Idee sich soweit abzusichern, dass seine Infos in jedem Fall an die Oeffentlichkeit kommen?
Er hat nicht mal waehrend der Wartezeit die Gelegenheit genutzt den Anwesenden brauchbar mitzuteilen worum es geht. Brauchbar insoweit, dass man weiss wonach man suchen muss.
Er haette einen ganzen Roman da lassen koennen, eben in Form eines Schriftstuecks – hat er aber nicht.
Ausserdem: Was hat er gedacht wieviel Zeit ihm bleibt. Ich fand die Wartezeit schon sehr lang, wenn man bedenkt, dass die Sicherheitsleute im Haus rum haengen…
Und schliesslich: Wer hat einen Nutzen von der Aktion?
Es hat ja nicht lange gedauert bis ueber verschaerfte Sicherheitsmassnahmen nachgedacht wurde und das in der heutigen Zeit in der die Medien stetig an Ruf verlieren.
Ach ja… Und jetzt, wo er seine Geschichte also nicht los geworden ist, verhaelt er sich aber dennoch ganz passiv gegenueber den Sicherheitsleuten und gibt ihnen das auch zu verstehen. Dann muss er nun aber damit rechnen, dass er im Bau vor seinen enttaeuschten Auftraggebern sitzt… naja vielleicht sind die aber auch gar nicht so enttaeuscht.
Bleibt in seinem Interesse nur zu hoffen, dass er im Knast keine Depressionen bekommt und sich im Schlaf erhaengt, ihn nicht die Blitzdiabetis hinrafft und er auch nicht ganz ordinaer ueber seine Fuesse stolpert und mit dem Kopf aufschlaegt… Solche Dinge geschehen in diesen Kreisen offenbar ueberdurchschnittlich oft.
Ach ja#2, und man sollte unbedingt nochmal das Studio absuchen – da muesste irgendwo noch sein Pass rum fliegen. Den verlieren sie doch alle.