Corona, Freitag der Dreizehnte und der ganze Rest

Heute ist Freitag der Dreizehnte. Es ist natürlich Zufall, aber es fällt mir auf. Seit gestern steigen die Corona-Fälle in Deutschland massiv an, oder richtiger, es werden mehr positive Testergebnisse bekannt. Und bei mir schleicht sich langsam ein mulmiges Gefühl ein. Dies wird ein persönlicher Beitrag.

Heute nacht, als ich nicht schlafen konnte, fasste ich meine Gedanken in einem langen Tweet zusammen: „Es ist mitten in der Nacht, und ich kann nicht schlafen. Es ist Freitag der 13., und ich habe ein Gefühl wie am ersten Tag von „War of the Worlds“, „Blackout“ oder „Die Wolke“ oder ähnliches. Ihr wisst schon: Der Tag, an den man sich später als unwirklich erinnert: Die Theater hatten geöffnet, die Leute gingen ins Kino, flanierten durch die Stadt… Und schon am nächsten Tag schlägt irgend etwas um. Ein Freund von mir in NRW, der Symptome hatte und seinen Hausarzt informierte, wurde von ihm in die Praxis bestellt, und als er die Frage verneinte, ob er in letzter Zeit eine Reise unternommen habe, und als er sagte, dass er nicht wissentlich einem Coronafall begegnet sei, meinte der Arzt, dann sei auch ein Test nicht nötig, man habe nicht genug Kapazitäten, alle zu testen. Ich denke, die Dunkelziffer dürfte unter diesen Umständen in die hunderttausende gehen, vielleicht in die Millionen. Bedenkt man, dass davon möglicherweise bis zu 3 % sterben werden, ist es kaum auszuhalten. In den letzten 24 Stunden ist bei mir etwas geschehen: Ich versuche immer noch, objektiv und ruhig zu bleiben, vor allem, was meine persönliche Gesundheit betrifft. Aber was ich fürchte, ist der Zusammenbruch unserer Ordnung, der leicht übergetünchten Zivilisation, des geordneten, bekannten, vertrauten Lebens. Ich versuche, jeden schönen Moment in mich aufzunehmen, jedes Frühstück, jedes freundliche Wort, jedes Lachen bis zur Neige zu genießen. Ich versuche, meine Arbeit für den Ohrfunk zu machen, ansonsten so wenig wie möglich aus dem Haus zu gehen und mit Menschen in Kontakt zu kommen. Doch warum gehen so viele Leute so unverantwortlich mit ihrem und unser aller Leben um? Mein Freund erzählte von seiner Busfahrt zum Arzt, genau an dem Tag, an dem die Fallzahlen in Deutschland um 800 in die Höhe schnellten: Leute umarmten sich, einige wenige hatten Atemmasken und Einweghandschuhe. Vermutlich husteten einige, auch mein Freund ist ja krank und ging zum Arzt. Es ist das Gefühl, an einem Abgrund zu stehen und sich mit Mühe oben zu halten, auf keinen Fall das Gleichgewicht verlieren zu wollen. Oder in schlimmeren Momenten das Gefühl, die letzten Momente des bekannten und vertrauten Lebens zu genießen. Politisch habe ich das schon öfter gesagt, vor allem beim Aufstieg der Rechten, aber jetzt ist es persönlich. Haltet durch!“

Nach einigen Stunden Schlaf bin ich wieder etwas ruhiger, auch nach einem ausführlichen Gespräch mit meiner Liebsten, und obwohl die Fallzahlen sich in Deutschland schon wieder um 700 erhöht haben. Es wird jetzt einfach die Welle kommen, und sie wird über uns hinwegschwappen. Was ich nicht verstehe, das sind die Leute, die Corona und COVID-19 mit einer normalen Grippe vergleichen, an der würden sich auch viele Leute anstecken. Dazu sage ich jetzt nichts mehr, es gibt unzählige Infos. Nur ist in meinem Kopf so ein Szenario::

Bei 5000 Infizierten nehmen die Hamsterkäufe zu, bei 10.000 Infizierten wollen die ersten weg aus den Städten, bei 20.000 Infizierten treten erste Lieferengpässe auf, bei 30.000 Infizierten brechen Versorgung und Pflege, öffentliche Beförderung und Einkaufsmöglichkeiten zusammen, bei 50.000 Infizierten muss die Bundeswehr in den Straßen für Ordnung sorgen, Versorgung mit Strom und Gas wird nur noch mit Mühe
aufrechterhalten, alle Geschäfte und öffentlichen Einrichtungen sind geschlossen, Krankenhäuser überlastet, Menschen sterben massenweise, Seuchengefahr nimmt zu, Lebensmittel verderben, Tiere werden nicht mehr gemolken und verenden, all solche Dinge. Den Anfang sehen wir in Italien. Es ist die Horrorvorstellung, dies alles explodiert so stark, dass es in keiner Weise mehr beherrschbar ist, weil die Regierung zugunsten der Wirtschaft viel zu lange keine Maßnahmen getroffen hat.

Wir sitzen hier in einem anonymen Mietshaus, die meisten unserer Freunde sind selbst blind, was machen wir, wenn die Ordnung oder auch nur die Versorgung zusammenbricht? Diese Frage müssen wir uns stellen. Heute haben wir für 190 Euro eingekauft, meine Liebste wird vorerst nicht nach Frankfurt zur Arbeit fahren. Auch wir minimieren persönliche, physische Kontakte so weit wie möglich. Ich fühle mich durch mein Übergewicht, mein Alter und meine Vorerkrankungen und möglichen Erkrankungen am Rande einer Risikogruppe, auch wenn meine Angst vor dem Tod durch Corona noch recht gering ist. Dass aber die Situation nicht mehr beherrschbar sein könnte, dass Menschen aufhören, mitmenschlich und besonnen zu handeln, dass Angst und Panik zu Aggression, Egoismus, Maßlosigkeit, Gewalt und Mitleidlosigkeit führen könnten, das sind Gedanken, die ich mir tatsächlich mache.

Vorgestern habe ich mit meinen Freunden Franz-Josef Hanke, Dr. Eckart Fuchs und Matthias Schulz beim Lagebesprech über Corona gesprochen. Wir waren unaufgeregt, und trotz allem hatten wir einen schönen Morgen mit einem guten Frühstück. Wir beachteten die Hygieneempfehlungen und saßen relativ weit auseinander. Von Panik keine Spur. Diese Ruhe, diese Besonnenheit wünsche ich allen Menschen. Aber es ist nicht weit von achselzuckender Ignoranz und Sorglosigkeit bis hin zur Massenpanik.

Heute morgen hatten wir einen interessanten Gedanken: Wenn meine Liebste schon zu Hause bleiben muss, könnten wir in dieser Zwangspause doch einige Dinge machen, die wir gern machen würden: Bestimmte Bücher lesen, selbst etwas schreiben, ähnliches. Das funktioniert, solange wir ein gesichertes, ruhiges Umfeld haben. Wenn man am Bankautomaten kein Geld mehr bekommt, wenn man sich vom Supermarkt nichts mehr liefern lassen kann und das Geschäft zum Einkauf nicht mehr geöffnet ist, und wenn dann die Vorräte ausgehen, ist schluss mit der Urlaubsruhe.

und was, wenn Menschen, die wir lieben, von Corona betroffen sind? Was, wenn alte Menschen sterben? Was, wenn chronisch Kranke unvorhergesehene Krankheitsverläufe ertragen müssen? Wie wird das Leben danach sein? Ist das die große Veränderung, die in den Romanen von Marc Elsberg beschrieben wird? Ist das eine zumindest extrem schwere Krise eines manchmal am seidenen Faden der gegenseitigen, vor allem digitalen, Abhängigkeit hängenden, verwundbaren Systems?

Ich glaube, viele Menschen sind trotz all der Aufklärungsvideos und Bildchen noch nicht wirklich informiert, nicht in einfachen Worten. Was bedeutet exponentielle Zunahme in drei Tagen? Warum ist Corona nicht einfach eine Grippe? Ich habe dieses Argument so oft gehört, gestern noch, heute noch.

Man wird sich des Lebens, das man führt, der Güte und Sicherheit dieses Lebens, noch mehr bewusst, wenn man zumindest für möglich hält, dass es in nächster Zeit zusammenbrechen könnte. Ein ähnliches Gefühl hatte ich, als in Thüringen eine Regierung mit Zustimmung der Nazis ins Amt gehoben wurde. Aber ich wusste: Bis zur hatz auf Arbeitslose und Behinderte würde es noch eine Weile dauern, und bis zur Verfolgung der relativ linken auch. Es lag weiter in der Zukunft als das, was heute möglich ist. Bis mitte Mai könte unser Gesundheitssystem zusammengebrochen sein, sagen führende Virologen. Die müssen es schließlich wissen. Auch sie reden von einer Möglichkeit, denn sicher wissen kann es niemand. Aber man kann eben auch nicht so tun, als gehe uns das alles nichts an.

So versuche ich, das Leben bewusst zu genießen, mich trotzdem zu informieren, meine Gedanken tabulos zu äußern, um sie nicht in mich hineinzufressen.

Heute überholte Deutschland Frankreich, was die Fallzahlen angeht. Selbst die Bundeskanzlerin sagt, dass vermutlich 70 % der Menschen das Virus früher oder später bekommen, der Punkt ist, es so lange wie möglich hinauszuzögern, um unser Gesundheitssystem zu entlasten.

Im Haus läuft eine Waschmaschine, meine Liebste duselt vor sich hin, leise läuft ein Hörbuch oder das Radio. Ein schöner, vertrauter Alltag. Nur kurz frage ich mich, ob wir vorsorglich Krankenhaustaschen mit Klamotten packen sollten. Ich habe schon Grippe erlebt, wenn es so weit ist, hat man dazu ganz sicher keine Lust mehr.

Und ich könnte ins Wohnzimmer gehen, um ganz einfach noch einen Kaffee zu trinken, an diesem Tag, der einem nachher immer so unwirklich erscheint, als wäre nichts geschehen, und von dem man dann nicht mehr begreift, warum man noch so ruhig und so normal war.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter Behinderung, erlebte Geschichte, Leben abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar