Mein fast vollständiger Abschied von Twitter

Schon vor ein paar Wochen habe ich mich mit der Frage befassen wollen, ob ich künftig noch auf Twitter bleibe oder nicht. Leider kam mir Corona dazwischen. Zwar habe ich immer noch Symptome, bin aber so weit wieder hergestellt, dass ich jetzt doch dieses Thema anpacken kann.

Vor ein paar Wochen schrieb ich auf Mastodon:

„Heute werde ich mir überlegen, ob ich meinen Twitter-Account endgültig stilllege. Dann werde ich dort nur noch meine Blogbeiträge veröffentlichen. Ich denke, das könnte mir gut tun. Ich bin seit 2009 auf Twitter, und ich habe dort anfangs durchaus auch interessante Menschen kennengelernt, mit mindestens zweien davon bin ich heute noch befreundet, und einige Andere sind inzwischen auch hier auf Mastodon. In den letzten Jahren hat sich aber viel verändert. Zunächst einmal fand ich ein soziales Netzwerk deshalb auch so faszinierend, weil ich dort unabhängig von meiner Behinderung, einfach nur durch das, was ich schrieb, Menschen kennenlernen und neue Perspektiven gewinnen konnte. Mit der Zeit aber habe auch ich auf die Followerzahlen geschaut, obwohl ich nie viele hatte. Und ich bin zunehmend auch Medien und sogenannten Influencern wegen ihrer Informationen gefolgt. Je mehr sich in unserer Gesellschaft die Lage zuspitzte, je schwieriger es wurde, ein normales Gespräch auf Twitter zu führen, desto weniger habe ich dort geschrieben. Nach und nach habe ich begriffen, dass auch solche Netzwerke wie Twitter zur Spaltung der Gesellschaft beitragen. Es geht dort oft, nicht immer, um Aufmerksamkeit, um Trends, um die Mobilisierung von Bewegungen und Shitstorms. Das war und ist nichts für mich. Ich habe immer nach einem wirklich sozialen Netzwerk gesucht: Eine Plattform zum Austausch, zur Horizonterweiterung, manchmal auch zur gegenseitigen Hilfeleistung. Eine virtuelle Nachbarschaft. Das ist schön, aber man muss sich dafür halt auch ein wenig anstrengen, wie man es anfangs auch bei Twitter machte. Zu dieser virtuellen Nachbarschaft gehört für mich durchaus auch mal ein Gespräch mit unterschiedlichen Meinungen, aber bitte mit gegenseitigem Respekt. In den letzten Jahren habe ich bemerkt, dass auch ich manchmal in der Wortwahl schärfer und unleidiger wurde, weil ich etwas kurz und knapp auf den Punkt bringen wollte, weil ich – so schmerzlich das ist –
Aufmerksamkeit für meine Meinung generieren wollte. Gott sei dank habe ich das schnell aufgehört, als ich merkte, dass ich das nicht konnte, dass ich schlicht nicht gut darin war. Also habe ich auf Twitter praktisch nichts mehr geschrieben. Der Wunsch nach einer Plattform mit friedlichem, durchaus auch kontroversem Austausch über gesellschaftliche und politische Fragen, aber auch mit einem Plausch über Science Fiction, über interessante Bücher, das Wetter oder spannende Fußballspiele ist mir aber geblieben. Die so oft erlebte Kultur des einander nicht verstehen wollens, des Zuspitzens, des provozierens oder der schnellen Beleidigtheit tut einem Menschen wie mir nicht gut, für den Kommunikation nicht Streit bedeutet. In den letzten Jahren habe ich viele Informationen, die ich auch beruflich nutzte, von Medien auf Twitter bekommen. Die hatte ich mir schön in einer Liste angelegt, und so kam ich immer an die neuesten Nachrichten. Doch woher kamen plötzlich diese Massen an Eilmeldungen, Sensationsnachrichten und Apokalyptischen Voraussagen? In letzter Zeit klang jede Überschrift so, als könne die Welt gleich untergehen. Dabei hat sich bei mir der Eindruck verschärft, dass viele Medien ebenfalls aus Aufmerksamkeitsgründen auf Twitter besonders reißerische Schlagzeilen raushauen. Es ist immer was los dort, und immer häufiger scheint es, dass Gräben zwischen Menschen, die eigentlich am selben Strang ziehen, wegen einer winzigen Äußerung oder eines kleinen Missverständnisses unüberbrückbar werden. Das ist tragisch, weil eine solche Plattform eigentlich ideal für einen weit gefächerten Austausch ist. Der Satz, dass die Algorithmen Schuld sind, gehört mittlerweile zum Allgemeinwissen, aber er ist zu einfach. Die zunehmend kompromissloser geführte Auseinandersetzung lässt sich nicht nur auf die Algorithmen zurückführen, sie ist auch im Offline-Leben weit verbreitet. Trotzdem verschärft Twitter das Problem. Also habe ich mich gefragt, ob das Fediverse und in meinem Falle Mastodon eine Lösung sein kann. Nach ein paar Monaten kann ich sagen, dass zumindest in meiner Timeline der Umgangston freundlicher ist, aber es kam bislang auch noch nicht wirklich zu größeren Meinungsverschiedenheiten. Viele mögen sagen, dass die Gespräche auch oberflächlicher sind, dass man sich an die heißen Eisen, über die man doch reden müsste, nicht ran traut. Doch ich glaube, man sollte diese heißen Eisen ansprechen *können*, nicht *müssen*. Ich bin in der glücklichsten Zeit zwischen dem zweiten Weltkrieg und heute aufgewachsen, in der Zeit, von der das Maybebop-Lied #lautsein spricht, ich gehöre genau zu dieser glücklichen Generation. Aber wir sehen eben auch, dass alles, was uns so selbstverständlich und teuer war, in sich zusammenfällt und in Scherben geht: Demokratie, Berechenbarkeit, Wohlstand, Mitmenschlichkeit. Die Stabilität dieses Grundgesetz gewordenen Lernprozesses haben wir überschätzt und uns zu sehr ausgeruht. Genau deshalb brauchen wir Möglichkeiten, miteinander zu reden, auch kontrovers, ohne uns an die Gurgel zu gehen! Twitter fördert dies leider nicht. Sozial ist ein Netzwerk dann, wenn die Menschen und ihre Beziehungen im Mittelpunkt stehen, nicht die Geschäftsinteressen der Konzerne und nicht die Aufmerksamkeitsökonomie. Dabei ist die Verrohung auf Twitter nicht zwangsläufig, es kommt auf die Menschen und ihre Aufmerksamkeit an. Da ich auf Twitter seit langem praktisch nicht mehr schreibe, weil ich persönlich ehrlich erschlagen bin von der Verrohung und Bitterkeit, von der Häme, von der Weltlage und Corona, von den kaum zuzuschüttenden Gräben in unserer Gesellschaft, die doch so gute Startvoraussetzungen hatte, werde ich den Account vermutlich stilllegen. Ich denke noch nach, aber eigentlich will ich einfach nicht davon abhängig sein.“

Wer dieses Blog verfolgt hat und weiß, wie lange ich ziemlich begeistert von Twitter war, der wird sich möglicherweise über meine doch sehr kritischen Worte wundern. Doch in den 13 Jahren, die ich auf Twitter war, hat sich viel verändert. Die Welt ist in dieser Zeit schneller und gründlicher auf einen Abgrund zugetrieben, als man es sich damals hätte vorstellen können. Natürlich kann man daran nicht Twitter die Schuld geben, oder doch? Sind die sozialen Netzwerke wie Facebook und Twitter nur die Boten, die uns vom Zustand der Welt künden, oder sind sie Brandbeschleuniger?

In den letzten Jahren bin ich mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass die gefühlte Notwendigkeit für die klassischen Medien, auf den sozialen Netzwerken Aufmerksamkeit generieren zu müssen, mehr ist als ein Symptom. Die Medienmacher*innen mussten feststellen, dass sie gerade auf Twitter und Facebook zwar theoretisch eine extreme Reichweite und riesige Followerzahlen hatten, dass sie aber nur Aufmerksamkeit bekamen, wenn sie reißerische, ins Auge springende Schlagzeilen generierten. Das ist tatsächlich ein Nachteil der von Algorithmen gesteuerten Netzwerke. Diese Steuerung entspringt dem kapitalistischen Credo, dass man dem Nutzer und der Nutzerin auf ihre Wünsche und Interessen abgestimmte Inhalte präsentieren will, womit man sie für die Werbekunden attraktiver macht und eigentlich als Produkte missbraucht. Schlimmer für unsere gesamtgesellschaftliche Entwicklung ist aber, dass die von den klassischen Medien als Trendsetter genutzten Debatten auf Twitter und Facebook eben durch diese Notwendigkeit der Aufmerksamkeitsgenerierung extrem polarisieren, keinen Raum für Kompromisse mehr lassen und unterschiedliche Meinungen schnell zu unterschiedlichen Weltanschauungen stilisieren, zwischen denen es keine gemeinsame Gesprächsbasis mehr gibt. Die klassischen Medien übernehmen diese Polarisierungen, anstatt durch einordnenden, konstruktiven Journalismus die Gemüter zu beruhigen und die gesellschaftliche Debatte zu kanalisieren, wie es ihre Aufgabe wäre.

Die zentral gesteuerten, weltweit als Konzerne agierenden Netzwerke sind für mich inzwischen selbst zu Brandbeschleunigern geworden. Sie förderten den Brexit, die Wahl Trumps, sie boten Trollen und Spionen, Terrorgruppen und Einzeltätern eine Bühne und eine Plattform. Sie eignen sich hervorragend zur Organisation radikaler Demokratiefeinde, die sich anhand ihrer polarisierenden Aussagen gegenseitig schnell finden und erkennen. Sie fördern die Echokammern, aus denen man nur entfliehen kann, wenn man sich Mühe gibt und das auch wirklich will. Und mit der Zeit werden die interessanten, weit gefächerten und hilfreichen, mit Neugier und Expertise geführten Debatten seltener und in jedem Falle weniger beachtet.

Irgendwann in den letzten Jahren habe ich bemerkt, dass Gespräche auf Twitter seltener wurden. Die letzte Debatte, die ich führte, war extrem kontrovers und übel. Sie fand im letzten Oktober statt. Mein Freund Franz-Josef Hanke hatte auf seinem Blog geschrieben, dass er das Gendersternchen nur sehr maßvoll verwendet, unter Anderem, weil er als Mehrfachbehinderter Probleme mit dem Sternchen und der Sprachausgabe hat. Ein anderer Twitternutzer warf ihm daraufhin vor, er würde faschistischen und frauenfeindlichen Einstellungen Vorschub leisten. Ich habe versucht, mit beiden zu debattieren, doch der Nutzer ließ sich nicht umstimmen und blockte meinen Freund. Es spielt hier keine Rolle, ob alle Nutzer*innen von Sprachausgaben die Meinung von Franz-Josef Hanke teilen, das ist auf keinen Fall so, aber die Unterstellung eines rückwärts gewandten Menschenbildes geht weit über das hinaus, was in dieser Diskussion angemessen war. Und so verlaufen mittlerweile viele Debatten. Ich habe Diskussionen erlebt, bei denen sich Leute, die eigentlich sehr ähnliche Meinungen und Interessen vertraten, wegen kleinen Formulierungen bis aufs Blut bekämpften. Das kann natürlich in jeder Debatte passieren, doch es wurde durch die Tatsache verschärft, dass die Kontrahenten sich aufgrund ihrer Followerzahlen und ihres Influencer-Status als Vertreter einer politischen Bewegung oder Meinung sahen, die sie unbedingt zum Sieg führen wollten.

Für mich ist klar, dass die sogenannten sozialen Netzwerke genau diese Funktion nicht mehr erfüllen, auch wenn das anfangs anders war. Seit Jahren schreibe ich kaum noch auf Twitter, ich biete nur meinen Follower*innen noch die Möglichkeit, meine Blogbeiträge zu lesen, indem ich sie dort verbreite. Da ich aber sonst nichts mehr schreibe, was favorisiert oder weitergeleitet wird, gehen meine Links zu meinen Blogbeiträgen wohl meistens auch unter, sieht man mal wieder von Franz-Josef Hanke ab, der meine Beiträge immer kommentiert und weiterleitet. Daher werde ich künftig auf Twitter nicht mehr schreiben, nur noch eine Weile meine Beiträge veröffentlichen, solange ich weiß, dass Andere sie noch lesen.

Ich habe schon gesagt, dass ich Mastodon als Alternative nutze. Viele haben mich gefragt, warum ich das tue, dort seien doch nur so wenig Leute, und ich würde meine Reichweite beschneiden. Doch das ist ein Trugschluss: Wer mir auf Mastodon folgt, bekommt erstens meine Inhalte in Echtzeit in seine Timeline, und zweitens folgt er oder sie genau mir aus persönlichem Interesse. Es gibt keine Algorithmen, die ihm oder ihr bestimmte Accounts vorschlagen, die sogenannten #followfridays, mit denen man auf Twitter Werbung für andere Accounts macht, sind auf Mastodon nicht erwünscht. Wenn persönliche Empfehlungen, dann ausführlich und zu einem bestimmten Account. Die Followerzahlen sind auf Mastodon geringer, aber sie täuschen auch keine Reichweite wie auf Twitter vor, die man in Wirklichkeit nicht hat. Vor allem aber: Reichweite ist nicht das, worum es im Fediversum geht. Es geht um Austausch und Miteinander. Das ist etwas, was wir in unserer zerrissenen Gesellschaft brauchen, ohne das wir nicht mehr gemeinsam um wichtige und notwendige Lösungen für unsere gravierenden Zukunftsprobleme ringen können.

Niemand kann sagen, wohin sich die algorithmusfreien, dezentralen sozialen Netzwerke entwickeln. Man kann aber sagen: Solange die Mehrheit der Admins der Instanzen verantwortungsbewusst sind, solange gelingt es zum Beispiel recht gut, rechte Trolle und ebensolche Bewegungen einzugrenzen und ihnen keine große Bühne zu bieten. Nichts ist perfekt, aber es ist ein alternativer Ansatz, der eine Chance haben sollte.

Ich werde also von nun an nur noch auf Mastodon schreiben, auf Twitter nur noch meine Blogbeiträge posten. Allen, die ich auf Twitter kennenlernen durfte, auch denen, die längst nicht mehr da sind, danke ich für den guten und interessanten Austausch.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter Computer und Internet, erlebte Geschichte, Leben, Medien, Politik abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar