Was mich lähmt, und warum ich derzeit keine Kommentare mehr schreibe

Gerade habe ich noch einmal nachgeschaut: Seit dem verhinderten Putschversuch des Nazi-Prinzen habe ich keinen einzigen Kommentar mehr verfasst, und das ist jetzt mehr als zwei Monate her. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, jede Woche einen politischen Kommentar für den Ohrfunk zu schreiben, und auch in meinem Blog wollte ich mich zu aktuellen Fragen äußern. In den letzten Tagen habe ich darüber nachgedacht, warum ich derzeit einfach keine Lust mehr darauf habe, meine Meinung zu aktuellen Entwicklungen in die Welt zu tragen. Die Antwort ist erschreckend: Ich möchte kein Chronist einer vorhersehbaren Katastrophe sein.

Dass der Menschheit im Bezug auf den Klimawandel eine Katastrophe bevorsteht, ist mir und den meisten anderen Menschen seit vielen Jahren bewusst. Trotzdem lohnte und lohnt sich der Kampf für eine neue Politik, denn wir haben immer noch ein Wort bei der Frage mitzureden, wie schlimm diese Katastrophe ausfallen wird. Auch wenn sie nicht mehr zu verhindern ist: Es ist ein Unterschied, ob die Erde sich um zwei oder um vier Grad erwärmt. Es sind also nicht die Erkenntnisse über den Zustand unseres Klimas, die mich lähmen, es sind vielmehr die globalen politischen Entwicklungen, die sich anfühlen, als spiele jemand mit unserer Welt Billard und habe einen extrem guten Stoß gemacht. Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, den wir trotz aller politischen und militärischen Bemühungen nur staunend und immer noch starr vor Schreck und extrem ratlos begleiten, scheinen wir in die Sogwirkung einer Entwicklung geraten zu sein, aus deren fatalen Konsequenzen es keinen Ausweg zu geben scheint.

Die Welt wird vorwiegend von Diktatoren, Despoten und Größenwahnsinnigen beherrscht. Sie zwingen ihre Logik auch den anderen Staaten auf, teilen die Welt in ihre Einflusssphären auf und bedienen sich schamlos an Ressourcen, Ländern und Menschen. Dabei verzichten sie inzwischen komplett auf ein positives Zukunftsideal als Rechtfertigung ihrer Maßnahmen und Kristallisationspunkt für ihre Anhänger. In Moskau, Peking, Teheran, Ankara, Budapest, Warschau, Pjöngjang, Rom, Riad, Jerusalem, Damaskus und vielen anderen Hauptstädten regiert unverhohlener Populismus, unverhohlene Machtgier und Überlegenheitsdünkel. Doch nur wenige Spieler beherrschen die globale Bühne: Wladimir Putin, Xi Jinping und – in geringerem Maße – Recep Tayyip ErdoÄŸan und Ali Chamenei. Der sogenannte Westen besitzt unter der strahlenden Blattgoldhülle des Kapitalismus nichts Ideelles mehr, was für seine Bürger*innen sinnstiftend und verteidigungswert wäre. Die Demokratie ist träge, korrupt, instabil und nicht in der Lage, die immerwährende soziale Frage zu lösen. Sie wird von Lobbygruppen beherrscht und verliert in den Augen der Benachteiligten immer mehr die Fähigkeit, einen Interessenausgleich auf gerechte Weise herzustellen. Radikale Revolutionäre, die auf den Tisch hauen, sind für viele Menschen offensichtlich wesentlich interessanter. Die herrschenden Despotien schrecken nicht vor militärischen Abenteuern und reinen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzügen zurück, denn sie wissen, dass ihnen niemand Einhalt gebieten kann. Sie tragen Angst in die Herzen der vom Kapitalismus verwöhnten Wohlstandsbürger*innen, und mit der Angst kommt der Drang, sich zu unterwerfen, als Gegenleistung für das zweifelhafte Versprechen der Erhaltung des Wohlstandes. Und die, die sich nicht unterwerfen, wehren sich zwar Rhetorisch, können sich aber ein militärisches Eingreifen nicht leisten, weil dies beim Geisteszustand der jetzigen Despoten die ganze Menschheit vernichten würde. Im kalten Krieg gab es auf beiden Seiten zum einen ein zumindest teilweise gefühltes Ideal für eine bessere Zukunft, und zum Anderen kannten alle Seiten die ungeheure Verantwortung, die auf ihren Schultern lastete. Den Putins, Xis und den Anderen Despoten ist das heutzutage egal. Die Gesellschaft des Westens andererseits spaltet sich zusehens in immer kleinere Interessengruppen auf, die genau jetzt verlangen, dass ihre Anliegen berücksichtigt werden. Sie wollen gehört und beachtet werden, aber nicht debattieren. Vor 25 Jahren rief man in der Behindertenbewegung aus: „Nichts über uns ohne uns!“, doch man wollte einen Dialog, keine Alleinvertretung. Heute soll man zuhören, den eigenen Rassismus und Sexismus nicht nur anerkennen, sondern auch den Mund halten. Und wenn man aufrichtigt die Ziele des Antirassismus und Antisexismus vertritt, schlägt einem das unüberwindliche Misstrauen entgegen, dass man damit nur verschleiern will, wie sexistisch und rassistisch man ist. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt, und der einen Dialog auf Augenhöhe sehr schwierig macht. Zumindest die Möglichkeit, gemeinsam an einer weniger rassistischen und sexistischen Welt zu arbeiten, sollte man haben. Diese Debatten, so notwendig und wichtig sie sind, werden von vielen Menschen nicht verstanden, deren Hauptaugenmerk auf ihrem täglichen Auskommen, den gestiegenen Energiepreisen und den Unwägbarkeiten des Alltags liegt. Wie immer bei progressiven Menschen macht einen die geringste Abweichung von der Meinung des Anderen schon zu jemandem, mit dem der oder die Andere nicht mehr zusammenarbeiten will oder kann. Die Gesellschaft versäult sich in immer kleinere Interessengruppen, die immer seltener konstruktiv miteinander reden, und die schon gar keine Möglichkeit mehr haben, ein zukunftsweisendes Konzept für eine funktionierende demokratische Gesellschaft zu entwickeln.

Aus all diesen Dingen, die scheinbar nicht viel miteinander zu tun haben, ergibt sich für mich folgendes: China und Russland versuchen, ihren Einfluss auf andere Teile der Welt auszudehnen, z. B. auf Afrika. Für kleinere, wirtschaftlich abhängige Staaten könnte gerade China, das seit über 70 Jahren als sehr stabil gilt, trotz Kulturrevolution und den Protesten auf dem Platz des himmlischen Friedens, sehr attraktiv sein. In manchen afrikanischen Staaten wird Chinesisch bereits in den Schulen gelehrt, und es ist nicht zu bezweifeln, dass China die kommende Supermacht ist, und zwar die Einzige. Russland wird sein eigenes Interessensgebiet haben, das ungefähr der früheren Sowjetunion entspricht. Dabei müssen wir noch dankbar sein, dass Wladimir Putin noch lebt. Nach jahrzehntelanger Hasspropaganda im heimischen Fernsehen und im Rundfunk ist die Bevölkerung mehrheitlich in einem aggressiven Klima aufgewachsen und kennt es nicht anders. Es gibt Strömungen, die noch wesentlich radikaler sind als Putin selbst, und die ungeduldig an die Macht drängen. Dem hat der Westen nichts entgegenzusetzen. In fast allen Staaten, in denen Wahlen stattfinden, geht die Macht auf rechte Populisten über: Schweden, Italien, Israel. Die Anderen kämpfen mit Müh und Not um die Macht der sogenannten Mitte, die durch Annäherung an die rechten Radikalen ihren Hals retten will. Von jedweder Form des Aufbruchs, der Erneuerung, des positiven Umbruchs sind wir weiter entfernt als vom Andromeda-Nebel. Neoliberalismus, Korruption und politische Selbstgerechtigkeit haben die Populisten mit ihren einfachen Lösungen und klaren Ansagen zu attraktiven Alternativen gemacht. Und wir sind unfähig genug, die Parallelen aus der Geschichte nicht zu erkennen und in dieselbe Falle zu laufen, in dieselbe Abwärtsspirale zu geraten, die einst im Holocaust mündete.

Mit dieser Gesellschaft lassen sich weder die Despoten aufhalten, noch der Klimawandel bekämpfen. Die USA verlieren ihren Status als Supermacht, und sie stehen vor der Zerreißprobe, ob sie sich in einen fundamentalistisch-christlichen und einen kapitalistischen Staat spalten, oder ob sie als Ganzes in eine Diktatur alter, weißer Männer geraten, die religiösen Eifer und rechte Ideen zu einem menschenverachtenden Mix verquicken. Auf der Ebene der Einzelstaaten werden die Rechte von Frauen und auch die der LGBTIQ-Bewegung bereits massiv beschnitten, und niemand geht dagegen auf die Straße.

Seit einem Jahr herrscht wieder Krieg in Europa. Es ist natürlich nicht der erste seit dem zweiten Weltkrieg, der Jugoslawienkrieg mit all seinen Verästelungen wird da leider oft vergessen. Dieser Krieg der Großmacht Russland gegen die Ukraine ist ein ideologischer Krieg: Russland erkennt die Ukrainer*innen nicht als Volk an und möchte sie ausrotten oder russifizieren. Es ist auch ein menschenverachtender Krieg, denn er wird mit äußerster Brutalität gegen die Zivilbevölkerung geführt. Kinder werden verschleppt, Frauen vergewaltigt, ganze Landstriche entvölkert. Und es ist ein psychologischer Krieg gegen die westliche Gesellschaft und die demokratischen Ideale. Mit jedem Schuss, mit jeder markigen Rede wird der Westen verhöhnt: Seht her: Ihr seid zu schwach, um euch gegen uns, gegen mich zu wehren. Russland kann man nicht besiegen, es ist schlicht „too big to fail“. Insofern kann es am Ende selbstverständlich nur einen Verhandlungsfrieden geben. Wünschenswert wäre einer, bei dem der Status von vor dem Krieg wieder hergestellt wird, weil die Ukraine sich lange genug tapfer verteidigt hat. Keine Option ist es jedoch, zu glauben, man könne Russland militärisch besiegen, Gelände gewinnen oder ähnliches. Russland kann an Ansehen verlieren, doch solange es Macht hat, spielt das für die russische Führung keine Rolle. Der sogenannte Westen hat aufgehört, irgendeine Art von Wertegemeinschaft zu sein, wenn er das je war. Doch zumindest in den Augen der meisten Bürger*innen war er in Ordnung, solange am Ende des Monats genug Geld auf dem Konto war.

Zur Herrschaft der Despoten und Diktatoren gibt es also keine sichtbare Alternative. Nicht in den nächsten Jahren. Die heutige Jugend könnte, wenn sie irgendwann die Macht in den meisten Ländern hat, aus purer Not das Steuer herumreißen, um die Klimakatastrophe abzumildern. Doch das ist ein Traum von übermorgen, und vielleicht ist er ebenfalls auf Sand gebaut. Vielleicht haben wir es tatsächlich zu weit getrieben, zu weit kommen lassen. Wer heute politisch sozialisiert wird, der lernt, eigene Interessen möglichst vehement zu vertreten, stets die eigene Identität und Besonderheit ins Zentrum zu stellen. Gesellschaftlicher Dialog hat sich schon deshalb bei vielen Menschen diskreditiert, weil positive Entwicklungen zu langsam gingen, weil die Macht eben doch bei Wirtschaftseliten, Cis-Männern und weißen Rassisten hängen blieb. Die Enttäuschung ist verständlich, und noch einmal Dialog und gemeinschaftliches Handeln, noch einmal Kompromisse zu fordern, ist fast schon anmaßend und doch notwendig. Denn spätestens hier gibt es keine Alternative. Doch es könnte leider zu spät sein, weil die Geduld nicht mehr reicht. Ohne eine Idee von einer gemeinsamen, gleichberechtigten Zukunft, zu der alle selbstverständlich gehören, und in der Alle zugunsten aller Anderen Kompromisse eingehen, haben wir jedoch unserer eigenen Bevölkerung nichts anzubieten, was sie davon abhalten würde, Populisten zu wählen und den Weltdespoten in die Hände zu spielen. Derzeit sehe ich, mit Ausnahme der Aktionen gegen die Klimakatastrophe, eine solche gemeinsame Gesellschaftsidee nicht.

Und deshalb ist alles so vorhersehbar: Der Reichtum der Reichen steigt, die Stimmen der Populisten gewinnen Wahlen, China wird zur Supermacht, Russland und die anderen Despotien zu regionalen Mächten, die Demokratien fallen durch wirtschaftlichen oder politischen Druck nach und nach in die Hände der Populisten oder unter die Kontrolle der jeweiligen Regionalmacht. Die Mächte setzen ihre Interessen durch Krieg durch, wenn Wirtschaftsdruck und andere Drohungen nicht mehr helfen. Ethnische und religiöse Säuberungen sind an der Tagesordnung, die USA zerfleischen sich selbst, die Demokratie schafft sich ab. Und wenn das geschehen ist, kann ich ohnehin kein Blog mit meiner eigenen Meinung mehr veröffentlichen. Das Internet wird uns nämlich nicht retten, im Gegenteil. Hier nutzen die Despotien ihre Macht, die Populisten und rechten Fanatiker ihre Bedrohungsinstrumente. Die Reaktion ist ein ständig stärkerer Überwachungsstaat, der den Populisten, wenn sie die Macht übernehmen, in die Hände fällt.

Das alles beobachte ich. Ich finde es so schrecklich, dass ich versuche, so wenig wie möglich Nachrichten zu hören. Ich versuche derzeit, mein eigenes Leben so lohnend wie möglich zu gestalten, hier kleine Erfolge zu erzielen, will dafür sorgen, dass Menschen sich freuen und etwas vom Leben haben. Mehr geht nicht, und mehr will ich auch nicht. Der Rest ist mir derzeit zu schmerzhaft.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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